Die Farbe Grau
Anlässlich der Ausstellung
von Gerhard Richters Acht Grau, die noch bis zum 5. Januar in den Ausstellungsräumen
der Deutsche Guggenheim in Berlin zu sehen ist, erläutern Marion Ackermann
und Wolf Tegethoff die Bedeutung der Farbe Grau im kulturellen und
künsthistorischen Kontext.

 Gerhard Richter: ACHT GRAU Ausstellungsansicht, 2002 Deutsche Guggenheim Berlin
Seine größte Lust war [...] irgend
einen albernen Einfall bis ins Unendliche zu verfolgen. So trug er sich
beständig grau, und weil die verschiedenen Teile seines Anzugs von verschiedenen
Zeugen [Stoffen und Webstrukturen] und also auch Schattierungen
waren, so konnte er tagelang daraufsinnen, wie er sich noch ein Grau mehr
auf den Leib schaffen wollte, und war glücklich, wenn ihm das gelang und
er uns beschämen konnte, die wir daran gezweifelt oder es für unmöglich
erklärt hatten. Alsdann hielt er uns lange Strafpredigten über unseren
Mangel an Erfindungskraft und über unsern Unglauben an seine Talente. Goethe,
Dichtung u. Wahrheit (HA Bd. 9, S. 297)
Grau ist im populären Sprachgebrauch
zumeist negativ konnotiert: Grau wirkt unscheinbar, zumal in seiner nach
wie vor beliebten Übertragung auf eine bestimmte Spezies weiblichen Geschlechts.
Es verbirgt den wahren Charakter der Dinge, indem es sie ihrer Strahlkraft
beraubt und sie mit einem undifferenzierten "Grauschleier" überzieht. Grau
signalisiert Lebensferne ("grau ... ist alle Theorie"), kündet "aschgrau"
von Verfall und nahendem Tod. Es überwiegt in der fahlen Tonigkeit des
Zwielichts, und unklar-zweideutig erscheint es uns in "Grauzonen" und "Grauen
Märkten", ganz zu schweigen von der "Grauen Eminenz", deren geheime Ziele
und Machenschaften für Außenstehende nur schwer zu durchschauen sind. Des
ungeachtet wohnt ihm eine starke Suggestionskraft inne, ohne die die Erfolgsgeschichte
von Photographie und Film schlechterdings kaum zu erklären wäre. Im Zwischenbereich
von Schwarz und Weiß vermag es in seinen unendlichen Schattierungen die
gesamte Palette des Spektrums zu evozieren, ohne dass der offensichtliche
Mangel an Farbigkeit als ein allzu großer Verlust an Wirklichkeitstreue
empfunden würde. Das Phänomen war von alters her bekannt und hat zu vielfältiger
künstlerischer Auseinandersetzung Anlass gegeben. Grisaillen, also ausschließlich
in Grau- oder Brauntönen angelegte Wand- und Tafelbilder, waren bereits
in der Antike bekannt und haben seit Jan van Eycks Adam
und Eva an den Außenflügeln des Genter
Altars in der neuzeitlichen Malerei ihren festen Platz behauptet.
Ob dabei letztlich die Absicht der Nachahmung von plastischen Bildwerken
im Vordergrund stand, mag hier dahingestellt bleiben. Der Reiz, mit äußerst
beschränkten Mitteln eine möglichst realitätsnahe Illusion hervorrufen
zu können, dürfte kaum weniger als Triebkraft gewirkt haben.
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 Gerhard Richter, Aus der Serie Fingermalereien, 1971, Öl auf Papier © Gerhard Richter, Köln
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Grau
resultiert selten aus einer simplen Mischung von Schwarz und Weiß, sondern
basiert in der Regel auf einem paritätischen Anteil von Blau-, Rot-, Gelb-
und Grüntönen, die je nach Mischungsverhältnis den spezifischen Grauwert
bestimmen und dabei in der einen oder anderen Richtung modifizieren. Daher
die beliebte Verwendung als Hintergrundsfolie, durch die jeder einzelne
Farbton in seiner Leuchtkraft intensiviert und zusätzlich gesteigert wird.
Insofern im Grau die gesamte Farbpalette enthalten ist, entsteht immer
ein harmonischer Gesamteindruck, bei dem zwar der farbige Gegenstand im
Raum dominiert, zugleich aber seiner Isolation enthoben wird. Eine weiße
Wand wirkt nicht neutral, sondern setzt sich in bewussten Kontrast zu den
darauf angebrachten Bildern. Grau dagegen bindet zusammen und erzeugt sanfte
Übergänge. Diese Eigenschaft hat Künstler von je her fasziniert und immer
wieder zu einer eingehenden Auseinandersetzung herausgefordert. Nach den
Farborgien der Fauves in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts überwiegt
in den Bildern des frühen Kubismus eine monochrome Tonigkeit, bei der ein
subtiler Grundakkord aus Grau- und Braunpigmenten den Gesamteindruck prägt.
In Guernica
(1937) hat Picasso auf jedweden Farbakzent verzichtet. Grau wird hier zum
expressiven Ausdrucksträger für das Grauen der nächtlichen Szenerie und
betont so den engen etymologischen Zusammenhang der Begriffe.

 Joseph Beuys, Iphigenie/Titus Andronicus, 1985 Glasobjekt in Eisenrahmen Sammlung Deutsche Bank © VG Bild-Kunst, Bonn 2003
Ein
dezentes Anthrazitgrau beherrschte die Produkte der Ulmer
Hochschule für Gestaltung in den fünfziger und frühen sechziger Jahren,
die das Design der Nachkriegszeit nachhaltig geprägt haben. Farblich hervorgehoben
sind lediglich die Bedienelemente – Knöpfe, Hebel und Schalter - , wodurch
der funktionale Charakter der Gegenstände deutlich betont wird. |
Ein unauffälliges
Grau beherrschte auch den Büroalltag der Wiederaufbauphase: Graue Weste,
graue Hose und graues Jackett, ein graues Kostüm für die Chefsekretärin
und eine graue Limousine mit Kühlerstern für den Herrn aus der Vorstandsetage
verbergen den wachsenden Wohlstand unter demonstrativen Zeichen der Unauffälligkeit.
Bis zum Siegeszug der Pop-Art scheint Farbe selbst in der Bildenden
Kunst zunehmend von der Palette verbannt. Joseph
Beuys gab Ende der fünfziger Jahre, nach einer Schaffenskrise, die
er im nachhinein als "Feldarbeit" bezeichnete, die leuchtende Farbigkeit
und Transparenz seiner frühen Aquarelle auf. Grau und Braun bedecken nun
als zähe Paste die darunter liegenden leuchtenderen Farbschichten, die
aber dennoch latent spürbar bleiben. Die opake graue Schicht lastet in
ihrer haptischen Materialität schwer auf der zarten farbigen Grundierung,
die durch sie hindurch kaum merklich zum Vorschein drängt. Grau schluckt
ähnlich dem Schwarz das Licht, unter dessen Einwirkung allein sich Farbe
entfalten kann. Grau erzeugt aber auch, wie Beuys betont, in der Imagination
des Betrachters ein komplementäres Gegenbild, das in sich bereits die Vorstellung
des gesamten Farbspektrums enthält. Die äußere Erlebniswelt wird in einem
Prozess des innerlichen Nachempfindens kompensiert: "Grau," so Beuys, "könnte
man als eine Neutralisierung oder als ein Bild der Neutralisierung im Bereich
der Farbigkeit nehmen. Ich nehme das Grau, um etwas zu provozieren im Menschen,
so etwas wie ein Gegenbild, man könnte fast sagen: den Regenbogen im Menschen
zu erzeugen." Der graue Filz als Beuys’sches Ur- und Schlüsselmotiv transzendiert
die graue Alltagskluft der späten Wirtschaftswunderjahre. Grau wirkt in
der Masse immer uniform, gewinnt aber in der differenzierenden Nahsicht
durchaus individuellen Charakter; denn schließlich habe, wie Beuys sagte,
ein Elefant "ja auch immer den selben Anzug an."

 Blinky Palermo, Ohne Titel, 1961 Monotypie auf Papier montiert auf Karton Siebdruck © VG Bild-Kunst, Bonn 2003
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 Blinky Palermo, Ohne Titel, 1970 Siebdruck © VG Bild-Kunst, Bonn 2003
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 Andy Warhol, Joseh Beuys in Memoriam, 1986, Siebdruck Sammlung Deutsche Bank © VG Bild-Kunst, Bonn 2003
Für Gerhard
Richter spielte dieser Gedanke einer unwillkürlichen Ergänzung der
fehlenden Farbe in der Imagination des Betrachters eine kaum weniger entscheidende
Rolle. In den Zwei Skulpturen für einen Raum von Blinky
Palermo von 1971 wird Farbe regelrecht gelöscht. Gipsmasken der beiden
Künstler erhielten zunächst einen dicken Farbauftrag, wobei der Pinselduktus
betont erhalten blieb. Von den bemalten Masken wurden sodann zwei Bronzeabgüsse
gefertigt, die zuletzt einen dünnen grauen Überzug erhielten. Der Überzug
löscht die Materialität der Bronze wie auch die ursprüngliche Farbigkeit
des Gussmodels, lässt diese aber durch die reliefartig eingeprägte Struktur
des Auftrags in Erinnerung immer noch nachklingen. Der stumpfe, "tote"
Grauton der Plastiken erzeugt Verunsicherung, negiert er doch neben ihrem
spezifischen Gewicht den klassischen warm-metallen Oberflächenreiz der
Bronze. Ähnlich, doch ebenso schwer einschätzbar, sind die grau gefassten
Wachsmodelle in Pia
Stadtbäumers Installation Androgyn/ Gynander, 1993. Das unsichtbar
Verborgene bleibt aber unter der Oberfläche nach wie vor existent und kann
so die Wirkung des Werkes entscheidend mit bestimmen. Nachdem Andy Warhol
1964 die Fassade eines von Philip Johnson geschaffenen Gebäudes mit Verbrecherphotos
der Most
Wanted Men gestaltet hatte (einen Artikel von Irit Krygier über
das Werk von Andy Warhol lesen Sie hier),
ließ er diese nach massiven Protesten der Öffentlichkeit mit silbergrauer
Aluminiumfarbe überstreichen, sich dessen sicherlich vollkommen bewusst,
dass in der Phantasie der Passanten die darunter liegenden Konterfeis auch
weiterhin präsent blieben, wodurch ihre Wirksamkeit und Intensität noch
zusätzlich gesteigert wurden.

 Gerhard Richter: ACHT GRAU Ausstellungsansicht, 2002 Deutsche Guggenheim Berlin
Richters Grau variiert durch den unterschiedlichen
Duktus des Farbauftrags in vielfältiger Weise den Charakter der Oberfläche.
Er erkundet so auf experimentellem Wege den phänomenalen Gegensatz von
Lokalkolorit und Erscheinungsfarbe, die erst in der Reaktion des Betrachters
zum Tragen kommt. Gewiss sind "in der Nacht alle Katzen grau“, doch das
Wissen um die tatsächliche farbige Erscheinungsform der Dinge ist unserem
Gedächtnis ein für alle Male unlöschbar eingeprägt. Im Lichte betrachtet
ist grau daher niemals nur schlichtweg grau, sondern liest sich als unter
Schleiern und Schichten verborgene Farbe.
Marion Ackermann ist Kuratorin
in der Städtischen
Galerie im Lenbachhaus Wolf Tegethoff ist Direktor des Zentralinstituts
für Kunstgeschichte |